Es gilt hier das Primat: gute, zeitgenössische und qualitätsvolle Architektur, die städtebauliche, räumliche und architektonische Aspekte ebenso erfüllt wie die Postulate der Nachhaltigkeit. Gewinnen Gebäude bald neben der benötigten Wärme respektive Kühlung für die Bewohner auch gleich die Mobilitätsenergie mit? Wäre es denkbar, dass die Gebäude 10% der benötigen Nahrung der Bewohnerinnen und Bewohner mitproduzieren, dass sie Regenwasser besser nutzen und Lebensraum für Biodiversität schaffen? Eine Sichtweise für den Lebenszyklus und für die Bedürfnisse zukünftiger Generationen (Enkelinnentauglichkeit) führen langfristig zu nachhaltigen Bauwerken. Energieeffizienz steht heute im Fokus fast aller Bauprojekte und damit von Gebäudehüllen. Dies ist jedoch nur eine Zielsetzung des nachhaltigen, ressourcenbewussten Bauens. Die EU verfolgt mit dem ab 2018 eingeführten Standard Nearly zero energy building (NZEB) möglicherweise eine zu enge Fokussierung.

Wie schon Buckminster Fuller voraussagte, bauen wir heute unsere Energie- und Gebäudesysteme von Öl- und Gasbetrieb auf solare Energien wie Wind, Wasser oder Photovoltaik um. Bereits 1913 an der Biennale in Kairo wurde das weltweit erste Sonnenkraftwerk in Betrieb genommen. Heute, mehr als 100 Jahre später, versuchen wir, die verlorenen Jahrzehnte für die Solarnutzung zu überspringen und an die damalige Pionierzeit anzuknüpfen.

Wünschenswert ist zudem, dass bei Bauten grundsätzlich ein gewisser Grad an Autonomie in Bezug auf die Energiegewinnung vorgeschrieben wird. Eine Entscheidung, die nebst höherer Lebensqualität auch mehr Unabhängigkeit von importierten Energieträgern mit sich bringt. Der Architekt und das Planungsteam können zusammen mit dem Auftraggeber dann frei und objektspezifisch entscheiden, welche erneuerbaren Ressourcen genutzt werden sollen.

Abbildung 59: Der Weg des Holzes in der baulichen und energetischen Nutzung (Quelle: Gerd Wegener).

 

Abbildung 60: Sonnenkraftwerk an der Biennale in Kairo, 1913 (Quelle: Historical Society of Tacony, USA).

Gebäudehülle

Wir wollen nicht, dass denkmalgeschützte respektive wertvolle Bauwerke hinter Dämmschichten verschwinden. Wir wollen qualitätsvoll gestaltete Fassaden und Dächer und wir wollen weg vom Flickwerk, von hässlichen Anlagen und von unsensibler Integration von Solarenergie in Gebäuden.

Keine Glaubenskriege wegen Dämmschichten?

Ein Wohnhaus sollte heute prioritär sehr gut wärmegedämmt sein (25 cm bis 40 cm). Zu beachten: Für den daraus resultierenden, bescheidenen Heizwärmebedarf ist es sinnvoll, eine effiziente Wärmeerzeugung, vorzugsweise mit erneuerbarer Energie, zu wählen und diese wenn immer möglich mit einer Sonnenkollektoranlage zu kombinieren. Welches Baumaterial jedoch gewählt wird, soll projektspezifisch und im gegebenen Kontext bestimmt werden. Wichtig ist, natürliche Materialien und Baustoffe zu wählen, die dampfdiffusionsoffen, regional und langlebig sind. Neuste Bauprojekte mit Einsteinmauerwerken und transluziden Betonwänden sind spannend, da diese Lösungsansätze ein altes Prinzip neu interpretieren und sehr langlebig sein können.

g-Wert

Der Gesamtenergiedurchlassgrad (auch g-Wert) ist ein Mass für die Durchlässigkeit von Bauteilen für Energie. Dieser gibt an, welcher Anteil der Energie durch Sonneneinstrahlung nach innen gelangt und dort zur Erwärmung beiträgt. Der g-Wert als Gesamtenergiedurchlassgrad ist die Summe aus der direkten Transmission solarer Strahlung sowie der sekundären Wärme-abgabe nach innen durch Strahlung und Konvektion. Quelle: Glas Trösch/Wikipedia

Gläser als Schlüsselfaktor

Solarer Direktgewinn als Hauptwärmequelle wurde erst in den letzten 25 Jahren dank der rasanten Entwicklung bei den Verglasungen möglich. Klar ist inzwischen vielen, dass nur noch 3-fach-Verglasungen eingesetzt werden sollten. Besonders in jüngerer Zeit sind 3-fach-Verglasungen mit hohen g-Werten von 0,66 und höher möglich geworden, die dennoch einen U-Wert von 0,7 W/(m2 K) erreichen und somit im Komfortbereich liegen. Möglich macht dies vor allem der Einsatz von Weissgläsern und neuen Beschichtungen. Der g-Wert ist der Gesamtenergiedurchlass eines Glaselements (siehe Kasten g-Wert). Von Südost bis Südwest setzt man also g-Wert-optimierte Verglasungen mit U-Werten besser als 0,7 W/(m2 K) ein. Für die übrigen Ausrichtungen greift man zu U-Wert-optimierter Verglasung; zurzeit sind Verglasungen mit einem U-Wert von 0,4 W/(m2 K) verfügbar.

Abbildung 61: Die einfallende Strahlungsintensität wird von der Verglasung aufgeteilt in Reflexion, Absorption und Transmission. g bezeichnet den Anteil, der insgesamt in den Raum gelangt (aus Pinpoint, vdf, 2007).

Offene Fassaden

Ein Beispiel einer offen konstruierten Fassade ist das Verwaltungsgebäude Gasser Baumaterialien AG, Chur, realisiert von der ARGE Domenig-Rüedi, Chur, (Europäi-scher und Schweizer Solarpreis, SIA-Preis für Nachhaltiges Bauen). Die tragende Aus­senwand besteht aus grossformatigen Kalksandsteinen als Sichtmauerwerk. Der Kalksandstein wurde gewählt, weil er rund 2,5-mal weniger graue Energie benötigt als ein Backstein und sehr klimaaktiv ist, also ähnliche Eigenschaften wie eine Lehmwand aufweist, schnell Feuchtigkeit aufnehmen und wieder abgeben und Gerüche neutralisieren kann. Er ist auch die dampfdichteste Schicht der Wand und die innere Luftdichtigkeitsebene. Der äussere Aufbau der Dämmebene und die Fassade sind eine Schnittholzkonstruktion. Dabei werden Doppellattenstücke auf die Kalksandsteine geschraubt und mit Distanzbrettern die äusseren, senkrechten Doppellatten befestigt. Als äussere Winddichtung dient eine diffusionsoffene, 22 mm starke Holzfaserplatte, die Stösse sind mit Latten geklemmt. Bei der Lärchenbretterfassade dient eine geschossweise Stufung als konstruktiver Holzschutz. Die Querlattung unter der Fassade hat einen Rhombusschnitt, dass kein Wasser liegen bleiben kann. Die meisten Fenster sind Festverglasungen mit äusseren Glasleisten aus Föhrenholz. Die einfachen eingefalzten Holzrahmen sind auf Holzklötzen mit Distanz auf die gemauerte Wand montiert. Die Zwischenräume werden ausgedämmt und mit einem Futterbrettchen abgedeckt. Diese einfache, hochwärmegedämmte Konstruktion kann jeder Holzbauer oder Schreiner herstellen. Die 3-fach-Verglasungen, die ohnehin eine beschränkte Lebensdauer von 20 bis 30 Jahren aufweisen, können gewechselt werden, ohne die Rahmen zu demontieren. Einzig die Glasleisten werden ersetzt. Die Demontierbarkeit garantieren Edelstahlschrauben, die auch keine unschönen «Schnäuze» hinterlassen. Ein Beispiel für eine nachhaltige, kostengünstige und unterhaltsfreundliche Fensterlösung.

Abbildung 62: Der Verwaltungsbau Gasser in Chur der ARGE Domenig-Rüedi, Chur.

 

Abbildung 63: Haus Gasser, Fassadenschnitt Ost-West, 3. OG.

 

Abbildung 64: Haus Gasser, Fassadenschnitt Ost-West EG.

 

Abbildung 65: Haus Gasser, Südfassade Fensterverglasung.

 

Abbildung 66: Haus Gasser, Grundriss Südfassade 1. OG (oben) und EG (unten).

Offene Dächer

Gleich wie Aussenwände sollten Dächer winddicht, aber diffusionsoffen konstruiert werden. Auch hier braucht es bei einem richtigen Aufbau keine Dampfbremsen oder Dampfsperren in Form einer Folie, um kondensatfrei zu bleiben. Bei Schrägdächern ist dies ohne Mehraufwand fast schon üblich, bei Flachdächern ist eine genügend hohe Unterlüftung die beste Lösung.

Abbildung 67: Unterlüftung des Daches, Dachanschluss, Sturz und Fensterbank (Schnitt) des Einfamilienhauses Beer in Paspels.

 

Das Einfamilienhaus Beer in Paspels aus dem Jahr 2015 von Pfleger + Stoeckli, Chur, ist ein solares Direktgewinnhaus mit Holzspeicherdecke, die Dachkonstruktion ist unterlüftet und bleibt diffusionsoffen (Abbildung 67). Das Vierfamilien-Direktgewinnhaus in Chur (1998, 3,6 kWh/(m2 a) gemessen) von Rüedi, Chur, hat einen Dachaufbau mit unterlüftetem Flachdach. Im Unterlüftungsraum ist ein ausziehbares Vordach untergebracht. Dieses zieht man im Mai aus und schiebt es im September wieder rein. Nach diesem Prinzip ist es auch möglich, Fensterbrüstungen zu konstruieren, die im Winter senkrecht und im Sommer ausgestellt sind. Diese könnte man sinnvollerweise auch mit Photovoltaikpaneelen ausrüsten (Abbildung 68).

Abbildung 68: Das Vierfamilien-Direktgewinnhaus in Chur (Bild: Patrick Kählin).

Temperaturzonen

Zwei Dreifamilien-Plusenergiehäuser in Flims haben keine Lüftungsanlagen und sind mit zwei bis drei «Schlafen-im-Frischluftsee»-Zimmern pro Wohnung aus­gerüstet. Da für viele Menschen frische Luft kühle Luft sein sollte und aus baubiologischer Sicht die Ionisierung von Luft in Lüftungskanälen problematisch erscheint, sollte über neue Ansätze nachgedacht werden. Vielversprechend ist die Idee mit der «Kaltluftwanne». Im Schlafzimmer wird eine möglichst masselose, zur Hausmasse hin etwa 5 cm gedämmte Wanne ausgebildet. Dazu wird ein Holzriemenboden mit Brusttäfer in Fichte-Mondholz mit 5 cm Hinterdämmung ausgeführt. Im Bereich des 1 m hohen Brusttäfers ist ein Kippfenster eingebaut, das den unteren Teil des Zimmers mit Frischluft füllt. Der obere Teil des Zimmers bleibt dabei warm, sobald im Zimmer keine Bewegung mehr stattfindet. Einzig über dem Kopf des Schlafenden gibt es noch eine kleine Zirkulationsbewegung. Es versteht sich von selbst, dass die Zimmertüre dicht geschlossen sein muss (Planetdichtung) und das Fenster erst geöffnet wird, wenn man sich schlafen legt. Die Mieterzufriedenheit ist sehr hoch und der Wärmeverbrauch tief, also ein voller Erfolg. Jede 4½-Zimmer-Wohnung hat im Wohnraum einen Pelletofen als Zusatzheizung ohne Wärmeverteilung.